Vom Nicht-Nutzer zum Nutzer: Kunden digital erreichen

Immer wieder wird die Frage gestellt, wie man in der Digitalisierung die Kunden erreichen kann. Der Kunde von heute ist viel umtriebiger, springt von Medium zu Medium und ist prinzipiell über eine Vielzahl an Kanälen – und damit über keinen so richtig – zu erreichen. Für die Unternehmen wird dies immer mehr zum Problem. Insbesondere die Vertriebsabteilungen suchen händeringend nach Antworten darauf, wie der digitale Kunde am besten zu adressieren ist. Doch oft heißt es: „Wir wissen nicht, wie wir unsere Kunden digital erreichen können.“

Der digitale Wandel wird sich auch zukünftig tief greifend gestalten. Denn je mehr man sich mit dem Thema beschäftigt, Gespräche führt, Führungskräfte ausbildet und an neuen Modellen arbeitet, desto mehr reift die Erkenntnis, dass wir – die Gesellschaft – noch sehr wenig von den Auswirkungen der Digitalisierung verstehen. Die New Economy hat ihre Erfahrungen mit ausschließlich digitalen Geschäftsmodellen, Onlineportalen, eCommerce etc. gesammelt. Doch nennenswerte Beispiele zur Digitalisierung der Old Economy und des Mittelstandes fehlen im Großen und Ganzen noch. Die Digitalisierung der Kundenbeziehung besteht ja nicht darin, E-Mails auszutauschen und Support-Tickets zu nutzen. Die Frage lautet eher, wie die digitale Kundenbeziehung in Zukunft aussehen wird. Und das führt zu der Frage: Was für eine digitale Kundenbeziehung möchte der Kunde eigentlich haben?

Keine Zeit – darum verstehen Unternehmen den digitalen Kunden so schwer
Der digitale Kunde lässt sich nicht mehr so leicht in Datenbanken verwalten, wie das früher der Fall war. Hatten wir im „CRM“ die Adressdaten und bestenfalls die Telefonnummern gesammelt, so wissen wir über den digitalen Kunden (Twitter, Facebook, selbst die E-Mail ist unbekannt) recht wenig. Diese Veränderung wirft die jahrelang gebauten Vertriebsprozesse in den Unternehmen über den Haufen. Die geschaffenen Strukturen sind schlicht zu unflexibel, um sich mit dem Kunden wirklich einmal zu befassen. Der Kunde vor der Digitalisierung wurde verwaltet, dabei ist der Bezug zu ihm verloren gegangen. Der digitale Kunde dagegen möchte das Interesse des Unternehmens haben, sonst geht er zum nächsten Anbieter.
Die Probleme liegen im Unternehmen und in der Art und Weise, wie das System „Vertrieb“ aufgebaut ist. Aus einer persönlichen Schätzung sind etwa 2/3 der Führungskräfte mit dem Thema Digitalisierung überfordert. Es ist einfach zu komplex, um nebenher behandelt zu werden. Zudem haben sie oft nur einen geringen Bezug zu den digitalen Medien. Überlegen Sie doch kurz, wer von Ihren Führungskräften die Zeit findet, Facebook oder Instagram zu nutzen, und wer auf seinem iPad mehr als nur die Standard-Apps verwendet – oder gar einmal die Zeit findet, sich ganz neue Konzepte anzusehen. Vor Kurzem ist mit „The Grid“ ein Anbieter gestartet, der Websites mithilfe intelligenter Algorithmen automatisch erzeug – eine selbstoptimierende Website, ganz ohne Ausschreibung, Lastenhefterstellung und Einkaufsprozedur klassischer Großkonzerne, für nur 25 $ im Monat. Dieses Beispiel ist echtes „Industrie 4.0“, wenn man den Begriff nutzen möchte.

Das Problem, das dahintersteckt, ist, dass gerade im Management zu wenig Freiräume herrschen, um sich dem Thema zu nähern. Digitalisierung ist ein Stück weit auch eine persönliche Lernerfahrung der Führungskräfte, schließlich sind die meisten nicht 25 und gerade ins Management aufgerückt. Man müsste das Entdecken der Digitalisierung ermöglichen. Das muss nicht im Silicon Valley geschehen, es gibt genügend Beispiele vor Ort, die die Digitalisierung und digitale Geschäftsmodelle greifbar machen. Das bedeutet, dass ein digitaler Wandlungsprozess im Vertrieb und im ganzen Unternehmen zwingend damit beginnt, dass für Führungskräfte der Freiraum zur Digitalisierung geschaffen wird, damit sich diese auf den Weg des sogenannten „Digital Leaders“ – jemand, der die Möglichkeiten der Digitalisierung entdeckt, ausprobiert und erlernen kann und die Erkenntnisse dem Unternehmen wieder zur Verfügung stellt – machen können. Hier haben Unternehmen begonnen, die Stelle des „CDO – Chief Digital Officer“ zu schaffen, der die Rolle als Integrator und Moderator übernehmen soll. Das entbindet jedoch nur sämtliche Führungskräfte von ihrer „Lernaufgabe“, in der Digitalisierung nachzukommen. Am Ende müssen allerdings alle Führungskräfte mit dem Thema etwas anfangen können, um es später auch den Mitarbeitern übermitteln und im Sinne des Unternehmens steuern zu können. Sonst werden diese eines Tages von den Mitarbeitern digital überholt.

Mey & Edlich, Quelle, Amazon – vom analogen zum digitalen Kunden

Der traditionelle Kundenkontakt wuar immer persönlich gestaltet: Es gab Verkaufszentren, Kundenberater, Vertreter – in jedem Fall war immer ein Mensch mit dem Kunden in Kontakt. Später wurde das durch elektronische Medien – wie Telefon, Fax und E-Mail – erweitert. Schauen wir uns das Beispiel der Textilwaren an. Hier wurde bis 1890 direkt von Mensch zu Mensch verkauft, etwas anderes war von der Infrastruktur her gar nicht möglich. Ab 1886 organisierte Mey & Edlich von Leipzig aus den ersten deutschen Katalogverkauf. Das war in der Tat ein „disruptives Geschäftsmodell“, das Quelle, Neckermann und Otto bis in die 1990er-Jahre zur Perfektion brachten. Der Kunde erhielt mehr Entscheidungsfreiheit: zu Hause oder im Laden kaufen? In Katalog A, B oder C bestellen? Das Hemd in den Varianten 1 bis 10?
An diesem grundsätzlichen Prinzip hat sich bis heute nichts geändert, nur dass sich die Entscheidungsfreiheit und damit die Entscheidungsmacht auf Basis des Internets potenziert hat. Das schlägt sich vor allem in den Verkaufszahlen wieder. 1990 wurden in Deutschland etwa 15 Mrd. Euro über den klassischen Versandhandel verkauft. 2014 lag der Onlineversand bereits bei 38 Mrd. Euro. Über die Hälfte davon entfallen auf Amazon (ca. 12 Mrd. Euro) und den Otto-Onlineshop (ca. 7 Mrd. Euro). Von der Macht der Kataloge ist heute nicht mehr viel übrig. Die meisten haben ihre Nische gefunden: Reisekataloge (lässt sich blättern, ankreuzen, rausreißen), Technikkataloge oder Spezialkataloge.
Wenn sich daraus eine Konklusion ableiten ließe, dann ist es die folgende: Der digitale Kunde entscheidet sich für den Weg des geringsten Widerstandes (denken Sie an die extrem hohe Servicekultur von Amazon). Und erst dadurch werden die Karten in der Digitalisierung neu gemischt. „Don’t make me think“ und „Don’t make me trouble“ sind die neuen Hardfacts.
Im Übrigen werden in Deutschland jedes Jahr Waren im Wert von über 3 Billionen Euro gehandelt – eine Menge Potenzial für die Digitalisierung im Vertrieb.

Hide an seek – wo befindet sich nun der Kunde?

Im Internet gibt es über 20 Kommunikationskanäle mit mehr als 100 Millionen Nutzern (E-Mail 3 Mrd., Facebook 1,4 Mrd., QQ 809 Mio., WhatsApp 700 Mio., Qzone 629 Mio., WeChat 468 Mio., etc.). Das gibt den Nutzern die Möglichkeit, ihre digitalen Kommunikationskanäle regelmäßig zu wechseln. Jugendliche sind zur Zeit eher über WhatsApp erreichbar als über Facebook. Dafür ist auf Facebook mittlerweile die breite Zielgruppe angekommen. Vor gut 15 Jahren waren die relevanten Kommunikationskanäle TV, Telefon, Zeitung, Plakat oder Brief. Heute haben wir etwa zwei- bis dreimal so viele Kanäle zur Hand. Wobei die Nutzer auswählen, über welche sie überhaupt erreichbar sein wollen.
Damit haben wir es mit immer mehr diversifizierten Zielgruppen zu tun. Diese Nutzer wiederum wählen aus dem ganzen Sortiment an Kommunikationstools die für sie jeweils passenden aus. Die „Gelegenheitsnutzer“ verwenden 2015 zumeist Telefon, TV, Zeitung, Facebook, WhatsApp, E-Mail und Websites. Die „Überzeugten“ sind verstärkt in den jüngeren Medien zu finden. Zeitung und TV haben die meisten Vorreiter aufgrund der generellen Kommunikationsflut hinter sich gelassen. Das geht so weit, dass bestimmte Vorreiter nur noch über Social Media erreichbar sind, da sie die E-Mail-Flut nicht mehr ertragen wollen. Das bedeutet, die Zielgruppen werden kleiner und müssen spezieller angesprochen werden. Wir brauchen im Vertrieb der Zukunft ein Matching der Zielgruppe und deren Kanäle mit dem Kommunikationsangebot der Unternehmen.
In der oben gezeigten Grafik sehen Sie die digitalen Zielgruppen in Deutschland, die bereits in meinem Buch „Software planen, die Nutzer lieben“ veröffentlicht wurde. Die große Masse bilden Gelegenheitsnutzer und Rationalisten. Die innovativeren Gruppen unterteilen sich in „Überzeugte“, „Trendsetter“, „Neugierige“ und „Vorreiter“ – sie sind zusammengefasst jedoch weniger Kunden als die „rationale Mitte“.

Ins Gespräch kommen und den digitalen Lead User profilen

Wussten Sie, dass der Unternehmer Reinhold Würth (die Würth Gruppe hat 66.044 Mitarbeiter) persönlich regelmäßig bei Kundenterminen zu Besuch war? Es ging ihm darum, die Kunden immer genau zu verstehen und neue Verkaufspotenziale aufzumachen (die Gruppe verkauft noch heute über 100.000 Produkte). Er zwang selbst seine Führungskräfte dazu, regelmäßig bei Kundenterminen dabei zu sein.

Von Zeit zu Zeit wäre es sehr hilfreich, die ganze interne Theorie und „Strategieerei“ beiseitezulassen und sich wieder ernsthaft mit den Kunden zusammenzusetzen. Fokusgruppen sind eine spannende Methode, um sich bei der Zielgruppe wieder die richtige Erdung zu holen. Hier lassen sich die Fragestellungen zur besseren digitalen Zusammenarbeit mit dem Kunden sehr gut diskutieren. Gerade im B2B-Bereich lassen sich auch Innovationstage mit Kunden nutzen, um mit ihnen über das Thema Digitalisierung ins Gespräch zu kommen. Die Frage „Wie wollen wir nun in Zukunft digital zusammenarbeiten?“ interessiert den Kunden genauso wie den Dienstleister. Aus den Diskussionen und Zielgruppenclustern lässt sich Ihr digitaler Lead User ableiten: Welcher digitale Kunde ist Innovationsvorreiter und kann mit Ihnen gemeinsam das digitale Geschäft der Zukunft entwickeln?

Ich sehe diese Gruppe vor allem im Bereich der „Überzeugten“, da diese mehr pragmatisch handeln und als Zielgruppe von der Größe her bereits wirtschaftlich relevant sind. Es spricht auch nichts dagegen, den Schwerpunkt alle zwei Jahre neu zu wählen. Wichtig ist für alle beteiligten Planer und Strategen, die Komplexität wieder zu reduzieren, aus diesem Grund ist eine strategische Lead-User-Gruppe so wichtig.

Dieser Lead User stellt die Kernzielgruppe für die digitale Unternehmensstrategie dar. Sämtliche digitalen Angebote und digitalen Geschäftsmodelle werden an seinem Interesse und der Nützlichkeit für ihn gemessen. Wenn diese Zielgruppe auch in Form von echten Kunden hinterlegt ist, lassen sich damit sehr schnell Tests und Interviews zu digitalen Innovationen im Vertrieb durchführen.

Technikadoption – in 5 Schritten vom Nicht-Nutzer zum Nutzer

Wie wird ein Nicht-Nutzer ein Nutzer? Nach dem Modell der inneren Kohärenz von Anton Antonovsky müssen für die Verhaltensänderung eines Menschen drei Dinge erfüllt sein: Sinn, Verständnis und Umsetzbarkeit. Der Sinn darin, ein bestimmtes Produkt zu nutzen, ist für Ihren Lead User gegeben, wenn er einen irgendgearteten Nutzen daraus ziehen kann, egal, ob ökonomisch oder sozial. Er muss verstehen, welche Handlungen welche Ergebnisse erzeugen und wie das Prinzip funktioniert, damit er eine Kontrolle über das digitale Werkzeug hat. Die Umsetzbarkeit liegt meist darin, dass er über das nötige Wissen verfügt, die Technologie zur jeweiligen Problemstellung passt und die technischen Gegebenheiten vorhanden sind. Die meisten Geschäftsmodelle scheitern aus meiner Sicht bereits an der Umsetzbarkeit der Nutzer.
Zudem darf man sich nicht vorstellen, dass aus einem Nicht-Nutzer umgehend ein Nutzer wird. Das Prinzip der inneren Kohärenz folgt grundlegenden Qualitätskriterien, die die Befähigung des Nutzers gewährleisten. Bevor ein digitaler Kunde jedoch eine Technologie nutzt, wird er einen Aneignungsprozess durchlaufen, eine Art Erkenntnistreppe. Diese wird als Adoptionsforschung bezeichnet. Sie erklärt, wie sich ein Mensch eine neue Technologie oder ein neues Verhalten aneignet (nach Rodgers).

  • 1) Wahrnehmung
    Wodurch nimmt er das digitale System wahr?
    Der Kunde erfährt von dem digitalen System, hat darüber hinaus noch keine weiteren Berührungspunkte.

  • 2) Information
    Wie erhält er Informationen zu dem digitalen System?
    Die Meinungsbildung: Der Kunde positioniert sich entweder positiv oder negativ dazu.

  • 3) Entscheidung
    Warum soll er sich für die Nutzung entscheiden?
    Der Kunde entscheidet sich, ob er das System als Innovation übernimmt (Adoption) oder verweigert (Rejektion).

  • 4) Erstnutzung
    Wie begeistern Sie den Kunden bei der ersten Nutzung?
    Das System ist eingerichtet und Ihr Kunde testet es. Entscheidend sind ein reibungsloser Einsatz und ein erster Erfolg.

  • 5) Stammnutzung
    Womit wird er als Stammnutzer begeistert?
    Der Kunde bewertet das System endgültig auf seine Relevanz hin. Dabei hat er immer mögliche Alternativen im Blick.

In der Praxis ausprobieren – vom Modell zum Marktbeweis

Mit dem systematischen Vorgehen von Lead User, Personas und den fünf Adoptionsschritten sind hervorragende wissenschaftliche Theorien und Studien in die Gestaltung des digitalen Vertriebs geflossen. Letztendlich sind es jedoch Modelle, die die Planung erleichtern, dabei die Realität nicht ersetzen. Um wirklich Sicherheit zu erhalten und die digitale Vertriebslösung in der Praxis auch tatsächlich umsetzen zu können, sind nur realitätsnahe Tests mit Prototypen möglich. Damit lässt sich im besten Fall sogar beweisen, dass man in falscher Richtung unterwegs ist und die Kunden möglicherweise selbst noch nicht weit genug sind. Das macht die abstrakte Theorie für alle Beteiligten wieder greifbar und es lässt sich der echte Marktbeweis einfordern.