Innovation Check – Die Nutzerstrategie hinter der Apple Watch

Seit etwa drei Monaten ist die Apple Watch auf dem Markt. Ersten Schätzungen zufolge hat Apple in dieser Zeit etwa 4,5 Millionen Geräte verkauft und hat damit den Markt für Wearable Devices auf einen Schlag verfünffacht. Lag der Markt zuvor noch bei rund 1 Mio. Geräten je Quartal, lag er nach dem Eintritt bei rund 5,3 Millionen Geräten. 

Dass die Uhr ein Flop wäre, ist also ein Gerücht. Zwar wird mittlerweile die Messlatte für Innovationserfolge - zu recht - sehr hoch angelegt. Leider werden dabei sämtliche Regeln für Innovationsvermarktung außer acht gelassen. So war das erste iPhone für die Kunden noch ein recht schlechtes Telefon. Selbst Apple hat das später einmal zugegeben. Die Idee war brillant, die technische Lösung noch in den Kinderschuhen. So hatte das Gerät weder UMTS noch einen App-Store. Aber der damals adressierten Zielgruppe - den Vorreitern bzw. Early Adoptern - konnte man das zumuten. Erst mit den nächsten Versionen adressierte Apple auch ernsthaft die breite Masse. Das ist mit der Apple Watch genauso. Und geht auch gar nicht anders.

Warum? Das möchte ich Ihnen im folgenden Whitepaper erläutern und die Nutzerstrategie der Apple Watch anhand des Digital Innovation Models beleuchten. Sie werden verstehen, wie sich die Fokussierung auf eine bestimmte (kleine) Zielgruppe für die Einführung von Innovationen auszahlt.

Das Digital Innovation Model

Das Strategiemodell entstand 2013, da eine passende Design Thinking Methode für digitale Innovationen fehlte. Es stützt sich dabei auf die Wissenschaftsdisziplinen der Adoptionsforschung, Diffusionsforschung, des Innovationsmanagements und User Centered Designs. Das Modell hilft, die Frage zu beantworten, welche digitalen Innovationen Potenzial auf Erfolg und welche eher geringe Chancen haben. Im folgenden werde ich mit Ihnen die neun Schritte, die auch die neun Stellschrauben für den Erfolg einer digitalen Innovation darstellen, für die Apple Watch durchgehen.

1 Ergebnisse und Ziele der Innovation

Die Vision von Apple ist es, großartige Computer zu bauen, die für Menschen da sind, chic aussehen und kinderleicht zu bedienen sind. Diese Vision zieht der Konzern kompromisslos durch. Auf der Keynote sprach Apple von dem persönlichsten Gerät, das sie jemals entwickelt haben. Nach den ersten zwei Monaten Nutzung muss ich dem uneingeschränkt zustimmen. Das Gerät ist sehr persönlich geworden und näher in den Alltag integriert, als alles zuvor Dagewesene. Dabei geht Apple einen entscheidenden Schritt: der Computer wird zum Accessoire. Das Ziel ist, Technik als Bestandteil des Lebens so zu gestalten, dass sie sich nahtlos an den Menschen anfügt.

Auf strategischer Ebene dient die Watch dazu, das Apple Öko-System rund um App-Store und Musik durch ein weiteres Gerät zu erweitern. Wenn auch nur 10 % aller iPhones-Besitzer eine Watch kaufen, wäre das bereits heute ein Markt von insgesamt etwa 70 Millionen Uhren.
Viel wichtiger als die Unternehmensergebnisse ist die Frage, welche Aufgabe Apples Innovation lösen muss, um ein Erfolg zu werden. Aus meiner Sicht geht es darum, die Verknüpfung so herzustellen, dass Menschen einen Computer nicht mehr als diesen wahrnehmen und das Tragen als attraktiv empfinden. Neben dem Fitness-Tracker Jawbone Up haben das bisher wenige technische Geräte geschafft. 

Zu lösende Aufgabe der Innovation: „Das Tragen eines Computers am Handgelenk attraktiv machen.“

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Abb: Die Apple Watch im August 2015 mit dem Digital Innovation Model analysiert (Kurzfassung) Mehr zum Model und das Buch dazu auf www.dmodel.com

2 Erfolgversprechendste Zielgruppe

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Die erfolgversprechendste Zielgruppe ist für Apple im ersten Schritt nicht der Massenmarkt, sondern sind die sogenannten Lead User bzw. Early Adopter. Diese Gruppe besteht aus trendführenden Nutzern, die Neuigkeiten ausprobieren wollen und resistenter gegen Kinderkrankheiten neuer Technologien sind. Sie helfen, diese in der Gesellschaft öffentlich sichtbar und praxistauglich darzustellen.

Lassen Sie uns den Lead User der Apple Watch „Enzo“ nennen. Er gehört zur Gruppe der Vorreiter – ist Anfang bis Mitte 30 und überwiegend männlich. Auch wenn ein Produkt noch nicht ganz ausgereift ist oder sich im Prototypenstatus befindet, möchte Enzo es bereits ausprobieren und damit experimentieren.

Er könnte leitender Softwareentwickler sein. Auf jeden Fall arbeitet er in einem techniknahen Beruf. Sowohl seine Innovationsbereitschaft, als auch sein Pragmatismus sind sehr hoch ausgeprägt. Er nutzt häufig iPhone, Laptop oder Tablet, allerdings kein TV und selten Tageszeitungen. Filme werden auf sämtlichen Geräten gestreamt.
Enzos typischer Tag beginnt relativ zeitig und endet spät. Bei der Arbeit nutzt er überwiegend Macbook oder PC, hat aber sein iPhone und iPad immer dabei, um neu entwickelte Programme auf ihnen zu testen. In seiner Freizeit lotet er das technisch Machbare aus. Neueste Technik wird eingehend analysiert, um die Grenzen des Bekannten wieder etwas weiter zu verschieben. Er will das machen, woran vorher noch niemand gedacht hat. Ihm geht es dabei weniger um Ruhm und Ehre, sondern vielmehr um Extravaganz.

Lead User: Enzo, 35 Jahre, überdurchschnittliches Einkommen, entdeckender Charakter, techniknaher Beruf, sehr hohes Bildungsniveau

3 Bedürfnisse und Probleme des Nutzers

Damit die Watch gekauft wird, muss sie einen relativen Vorteil bieten. Menschen sind „Schnäppchenjäger“, wie der Münchner Psychologe Jens Corssen feststellt - und das nicht nur im ökonomischen Sinn.

Die Uhr selbst bietet den Lead Usern wenige ökonomische Vorteile, da diese zum Zeitpunkt der Einführung noch nicht bewiesen, sondern nur vermutet werden können. Aber Sie bietet eine Menge soziale Vorteile.  Die Apple Watch spricht in erster Linie emotionale Bedürfnisse an: elegant, unauffällig, individuell an den Träger angepasst - und möglicherweise zukunftsweisend. Schließlich ist es der erste Computer, der als Mode-Accessoire getragen wird.
Das spricht den Lead User in seinem Bedürfnis nach Selbstbestimmung, Extravaganz und Vorreiterrolle an. Das spiegelt sich auch in seinem Umgang mit Technik wider, die von ihm angepasst und optimiert wird. Technik bedeutet für ihn das Auflösen von Grenzen. Die neueste Technik hilft ihm dabei.

Erst in zweiter Linie sind mögliche rationale Bedürfnisse wichtig: persönliche Gesundheit und Kontrolle über diese (der „Patient 2.0“) sowie der permanente Zugriff auf Informationen von E-Mails, News-Portalen und App-Benachrichtigungen etc.

Enzos größtes Interesse: Vorreiter sein (und damit jemand besonderer), aktiv leben, immer up-to-date, bei wenig Zeitkontingent

4 Aufmerksamkeit und Diffusion der Uhr

Aufmerksamkeit zu erlangen ist für Apple eine geübte Tradition. Die Gerüchteküche vor dem Launch eines Produkts funktioniert ausgezeichnet. Durch die freiwillige Berichterstattung der Medien und Blogs wird eine extrem hohe Aufmerksamkeit erreicht. Auch die frühzeitige Präsentation im Herbst 2014 war hilfreich. Das kurbelt die Kommunikation zwischen potentiellen Käufern an: „Hast du die Präsentation von der Apple Watch gesehen?“ - „Und, hast du schon eine bestellt?“. Das baut tatsächlich den interpersonalen Druck zwischen den Lead Usern auf. Wer sich als Vorreiter identifiziert und keine Apple Watch bestellt hat, bekommt möglicherweise Probleme mit seinem Selbstbild.

Zur Aufmerksamkeit trägt auch die konsequente Präsentation des Geräts als Alltagsprodukt bei. Apple spricht nicht über Prozessoren oder Speicherkapazität. Apple präsentiert die Innovation als das natürlichste Accessoire der Welt. Erfahrungsberichte wie von Model und Sportlerin Christy Turlington Burns helfen, die Glaubwürdigkeit und Attraktivität zu untermauern. In den Apple Stores kann sich jeder Interessent ein eigenes Bild machen. Die Uhren liegen wie Kunstwerke in den Vitrinen und können schnell und unkompliziert anprobiert werden.

Der wichtigste Nachrichtenwert: Jeder bekommt seine individuelle Apple Watch, und es ist das natürlichste eines neuen Zeitalters.

5 Erstnutzungserlebnis

Das Erstnutzungserlebnis ist Apple-typisch: spielerisches Entdecken und Ausprobieren. Hinzu kommen:

  1. Hochwertige Verpackung, hochwertiges Produktdesign - die Watch liegt wie ein Edelstein in der Packung.

  2. Die Uhr richtet sich mit den verfügbaren Apps selbst ein, mit überschaubarem Konfigurationsaufwand. Die meiste Zeit bedarf das Ausprobieren und ist durch die Größe zunächst gewöhnungsbedürftig.

  3. Die eingeblendeten Nachrichten und sogenannten Check-Fenster geben einen schnellen Überblick überInformationen zu Gesundheit, Anrufen, App-Benachrichtigungen, Navigation, Wetter etc.

  4. Der Gesundheitsassistent nimmt sofort seine Arbeit auf. In verblüffend angenehmer Weise zeigt er Motivationshinweise zur Aktivität und zu erreichten Zielen an.

  5. Die Taptic Engine macht dezent auf einen „Kommunikationswunsch“ der Uhr aufmerksam.

Das erste Erlebnis ist spannend und aufregend. Noch nie war ein Computer so nah und elegant mit einem Menschen in Kontakt. Gleichzeitig ist es eine Umstellung der bisherigen Nutzung technischer Geräte. Und das Finden und Entdecken aller Features dauert ein wenig. In meinem Tagebuch hatte ich mir vermerkt: „Alles in allem war der erste Tag noch ein Feature-Suchen. Das funktioniert spielerisch, aber die Uhr hat so viele Funktionen, dass man sich am ersten Tag kaum merken kann, wo sich etwas befindet.“

Erste Belohnung: Unauffällige Komplimente und Motivationshinweise wie "toll gemacht, heute ausreichend viel bewegt" oder "Super, tolle Bewegungsserie diese Woche".

6 Stammnutzen

Die Uhr hat unzählbare Funktionen und ich brauchte etwa zwei Monate, um sie in meinen Alltag komplett zu integrieren. Das ritualisierte Aufladen am Nachtisch funktioniert unproblematisch, das Auffinden der ganzen Apps benötigt ein bisschen Zeit. Man muss lernen, welche Apps besser auf der Uhr und welche besser auf dem iPhone genutzt werden können.

Der Stammnutzen lässt sich in folgende fünf Punkte zusammenfassen:

  1. Dauerhafter Fitnesscoach und Tracking der Gesundheitsdaten (Puls und Bewegung).

  2. Verlagerung der Kurzinfos von Apps wie Messaging, Paypal, Xing etc. auf die Watch.

  3. Individualisierung der Armbänder je nach Anlass.

  4. Cloud-Infozentrale auf dem Ziffernblatt wie Wetterdienst (sehr schön integriert) und Termine.

  5. Steuerung von Apps wie Musik, Navigation und Telefon (als Walki Talki) über die Uhr.

Absoluter Flash-Moment: wenn die besten Freunde oder Eltern Urlaubsfotos schicken und jene Menschen mit einem Wink auf der Uhr zu sehen sind - unkompliziert und atemberaubend.
Ein Nachteil ist das nächtliche Aufladen und die dadurch fehlende Schlaferfassung sowie die Langsamkeit der Apps und zum Teil noch fehlende Bedienlösungen für den kleinen Bildschirm. Hier gibt es für den Stammnutzen Nachbesserungsbedarf.

Stammnutzen: Schneller Direktzugriff auf alle Daten und Informationen.
Produkterinnerung: Die Uhr nutzt die Taptic Engine, um auf sich aufmerksam zu machen.

7 Eigenschaften - Produktdesign und Alleinstellungsmerkmal

Die Produkteigenschaften werden Ihnen bereits bekannt sein. Die wesentlichen Punkte, die Apple als Gesamtprodukt sicherstellen musste, waren:

  1. Jedem Kunden seine individuelle Apple Watch ermöglichen (Modell, Material, Armband).

  2. Lösung des Batterieproblems durch den Prozessor und das nächtliche Ritual am Nachttisch.

  3. Individualisierte Apps durch den App-Store.

Ein Produktdesign-Nachteil ist sicherlich noch die zwanghafte Verbindung zum iPhone. Wenn Apple es schafft, die Watch als alleinstehendes Produkt zu konzipieren, dürfte der endgültige Durchbruch sicher sein.

Killerfeature: Auch wenn die meisten Kritiker kein Alleinstellungsmerkmal erkennen, sehe ich ein eher verstecktes: die Taptic Engine. Sie erlaubt eine unauffällige Kommunikation zum Träger.

8 Unterstützer, Partner und Kritiker

Die meiste Unterstützung erhält Apple durch sein eigenes Ökosystem. Das sind das iPhone als Internetzentrale, der AppStore für individualisierte Apps und die eigenen Apple Stores, in denen das Produkt genauso gezeigt werden kann, wie sich Apple das vorstellt. Für die Produktion arbeitet das Unternehmen mit Quanta Computer zusammen, einem unauffälligen Konkurrenten von Foxconn.

Es gibt jedoch Partner und Unterstützer, die für die Positionierung des Geräts elementar sind: einflussreiche Vertreter der Modebranche. Das begann bereits im Frühjahr 2014 mit der Abwerbung der Burberry-Chefin Angela Ahrendts als Leiterin der Apple Stores. Zusätzlich wurde die Apple Watch im Rahmen der Paris Fashion Week präsentiert und auf dem Titelblatt der chinesischen Vogue gezeigt.

Kritiker gibt es reichlich. Der Swatch Chef verkündete vor kurzem, dass er auf der Apple Watch keine Killerapp finden könne. Bei den Nutzern sind es vor allem die „Closed Minds“ und die Antagonisten. Die Closed Minds haben erhebliche Zweifel an irgendeinem rationalen Nutzen dieses Gadgets. Dagegen kann vorerst auch nicht argumentiert werden, denn der Nutzen ist schlicht noch nicht bewiesen. Die Antagonisten sind noch radikaler und befürchten eine "weitere Verschlechterung der Gesellschaft, wenn das jeder tun würde".

Ich schätze, gerade die Gesundheitsfunktionen werden einen erheblichen, gesellschaftlichen Einfluss haben. Nicht nur in den USA, sondern in allen Industriestaaten wäre ein messbarer Erfolg wünschenswert.

Nutzen für die Partner: Modeevents und Modecover werden selbst zum Gesprächsthema

9 Aufwände und Einnahmen

Sie sind bestimmt auf die Entwicklungskosten und das Geschäftsmodell von Apple gespannt. Leider lässt sich Apple wenig in die Karten schauen. Angeblich kostet die Herstellung der Uhr etwa 100 USD, es können auch 150 USD sein. Dazu kommen noch erhebliche Entwicklungs- und Vermarktungskosten. Die Entwicklung des ersten iPhones hat innerhalb der ersten 30 Monate etwa 150 Mio. USD benötigt. Die reinen Entwicklungskosten der Apple Watch werden daher vermutlich etwa 200 Mio. USD betragen. Den größten Teil der Entwicklung hat der Forschungsbereich verschlungen: Materialforschung, Fitnessforschung, Entwicklung der kleinen Chipstruktur, Batterielösungen und die Entwicklung des neuen Betriebssystems.

Auf der Einnahmenseite stehen Stückpreise von 350,- bis 1.100,- USD. Die Luxusvarianten der Watch Edition dienen vermutlich der Positionierung, weniger als Einnahmequelle. Mindestens bei jeder zehnten Uhr wird sich der Träger bereits ein weiteres Armband gekauft haben, um es entsprechend des Anlasses und der Nutzung zu individualisieren. Nehmen wir einen Durchschnittspreis von 600,- USD an, ergibt das bei ca. 4,5 Millionen Geräten im ersten Quartal einen Umsatz von 2,7 Mrd. USD für ein Erstprodukt.

Erste wirtschaftliche Ergebnisse: ca. 2,7 Mrd USD innerhalb der ersten 3 Monate

Fazit

Apple hat mit der Watch sehr genau nachgedacht, wer die eigentliche Zielgruppe im ersten Schritt ist und welche Bedürfnisse das Produkt zu bedienen hat. Sie haben sich dabei nicht gleich vom Massenmarkt blenden lassen, sondern auf ihre üblichen Diffusionsagenten für Innovationen - die Lead User - gesetzt. Damit hat Apple sicherlich mehr Erfahrung als viele andere Unternehmen, denn Apple hat immer erst sehr kleine Trendsetter-Gruppen angesprochen, bevor sie sich dem Massenmarkt zugewandt habe. Das Unternehmen zeigt, dass es seine verschiedenen Zielgruppen sehr genau verstanden hat und konsequent deren Bedürfnissen folgt. Die Apple Watch dürfte deshalb den Wearable Markt umkrempeln.

Da wünscht man sich weitere Nachahmer mit ähnlicher Perfektion im Vorgehen. Wenn Sie das Digital Innovation Model für Ihre eigenen IT Projekte und digitalen Innovationen ausprobieren möchten, finden Sie das kostenlose Poster und das neue Praxisbuch dazu auf www.dmodel.com.